Herr E. ruft Freitagmittag in der Lebensberatungsstelle an, in der ich arbeite. Er sei vor drei Wochen Zeuge eines schweren Arbeitsunfalls gewesen. Als Ersthelfer (nur wenige Tage nach dem Ersthelfer-Lehrgang) hatte er Erste Hilfe geleistet. Die Bilder des Unfalls gehen ihm jetzt nicht mehr aus dem Kopf, er kann nachts nicht schlafen, auf Familienfeiern oder Zusammenkünften mit Freunden kann er sich nicht mehr freuen. Er muss immer über den Unfall reden, seine Frau will es gar nicht mehr hören. Er muss immer an den Unfall denken.
Erste Sitzung
Herr E. kommt den folgenden Montagnachmittag in die Beratungsstelle. Er ist sichtlich bewegt, es fällt ihm schwer, die Vorkommnisse zu schildern. Er berichtet von flash-backs, Bildern über das Geschehen, die immer wieder kehren. Und er berichtet, dass er sich seitdem auf Baustellen (er ist Bauingenieur, viel auf Großbaustellen unterwegs) immer der Gefahr bewusst ist, bzw. Angst hat, dass so etwas noch einmal passiert. Er ist dadurch bei der Arbeit behindert. Während des Erzählens habe ich ihn die Handkante klopfen lassen. Vor dem Unfall war er sozial integriert, konnte gut schlafen und fühlte sich gut.
Da Herr E. nach der Beratung noch einen Termin hat und eine längere Strecke mit dem PKW fahren muss, haben wir einen neuen Termin vereinbart für die EFT-Arbeit.
(ich mache die Erfahrung, dass Menschen nach der Bearbeitung traumatischer Erlebnisse oft sehr müde sind, darum wollte ich ihn nicht nach der EFT-Sitzung auf die Autobahn schicken). Wir haben vereinbart, dass er sich nach den Folgetermin etwas Zeit nimmt für die Integration und nicht sofort wieder in den Alltag einsteigt.
Nächste EFT-Sitzung
Nach einer Entspannungsübung haben wir den Unfall in Einzelbestandteile zerlegt und diese Einzelepisoden getappt: Zuerst das Geräusch, als sich die Eisenplatte löste, der Schreck, das Erstarren.
Die Empfindung der eigenen Gefahr. Wir haben solange getappt, bis diese Emotionen in der Jetztzeit nicht mehr spürbar waren. Genauso sind wir mit den folgenden Episoden / Aspekten vorgegangen:
– Das Erkennen, dass mehrere Menschen unter der Platte liegen.
– Das Entsetzen darüber.
– Das Ziehen / die Angst im Bauch.
– Ich bin allein übrig und muss jetzt helfen. Ich habe Angst, Fehler zu machen.
– Der Impuls, weg zu laufen.
– Die Entscheidung, wem helfe ich zuerst.
– Das Schreien und Stöhnen der Verletzten.
– Das Blut, die Körperflüssigkeiten an meinen Händen.
– Die Augen / der Blick des Schwerverletzten.
– Das Erkennen, dass für einen Mann wahrscheinlich jede Hilfe zu spät kommt.
– Die Schuldgefühle, weil ich diesem Mann nicht helfen konnte.
– Der Druck auf meinem Herzen.
– Und wieder die Angst, etwas falsch zu machen, bzw. etwas falsch gemacht zu haben.
Wir haben 1,5 Stunden gearbeitet, danach waren die aktuellen Emotionen zu den oben genannten Episoden zwischen 0 und 2. Wir haben die Gehirnbalance gemacht und Herr E. konnte jetzt den Unfall zusammenhängend schildern. Er verspürte ein tiefes Bedauern für das Schicksal der Betroffenen. Es gab aber keine eigenen Emotionen oder Körpergefühle mehr. Er erlaubt sich, glücklich darüber zu sein, dass er selber unversehrt geblieben ist. Nach dem Klopfen war er erschöpft aber auch sehr entspannt. Wir haben einen weiteren Termin in der nächsten Woche vereinbart. Ich habe ihm noch den Satz: „Ich habe das getan, was in meiner Macht stand und ich habe vielen Menschen helfen können. Ich bin mit mir und meinem Handeln vollständig im Reinen. Ich darf das Leben genießen und glücklich sein. “ mitgegeben.
4 Tage später bekomme ich einen Anruf von Herrn E: Er ist völlig erstaunt über die Veränderung. Er hat in der Nacht nach dieser Sitzung das erste Mal wieder tief und fest geschlafen und das ist auch in den Folgenächten so geblieben. Auf Baustellen bewegt er sich zwar aufmerksamer aber ohne Gefühl der Beeinträchtigung. Er hat den Unfall als schlimmes Erlebnis in der Vergangenheit abgespeichert, lebt wieder in der Gegenwart, kann lachen und in Kontakt zu anderen gehen. Den Termin sagt er ab, da es einen wichtigen beruflichen Termin gibt. Wir vereinbaren keinen weiteren Termin, da es ihm gut geht, er kann sich wieder melden, falls es noch Reste gibt.
Übrigens:
Dies sind Erlebnisse, die Feuerwehrleute, Sanitäter, Ärzte, Polizisten regelmäßig haben. Und auch diese Berufsgruppen leiden unter den wiederkehrenden Bildern. Es gibt Statistiken, die besagen, daß bis zu 30 % der Mitarbeiter aus den Blaulichtberufen unter mehr oder minder starken Symptomen posttraumatischer Belastung leiden. Auch die Zeugen oder Ersthelfer von Unfällen oder von Überfällen können stark belastet sein.
Es lohnt sich, Klienten nach ehrenamtlichen Tätigkeiten in den oben genannten Bereichen zu fragen oder nach Erlebnissen als Zeuge. Oft sind diese Erlebnisse noch sehr gegenwärtig, auch wenn die Tätigkeit schon lange vorbei ist. EFT kann hier viel von der Belastung auffangen, vielfach sogar als Selbsthilfetechnik.
- Details
- Geschrieben von Marion Schmiedeskamp-Vemmer
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